
Nicht alle haben so viel Ausdauer und Mut wie Gabie und Alicia Baier. Fürchten die Bedrohung durch radikale Abtreibungsgegner. Fürchten die Stigmatisierung. Doch es gibt noch einen weiteren Grund für den Ärztemangel: Schwangerschaftsabbrüche werden im Medizinstudium und der Facharztausbildung häufig gar nicht gelehrt.
Als Studentin an der Berliner Charité erfährt Alicia Baier bei einer Podiumsdiskussion von einer niederländischen Ärztin, dass es in Deutschland pro Jahr ungefähr so viele Schwangerschaftsabbrüche wie Blinddarm-Operationen gibt. Ihr fällt auf, dass sie in ihrem Studium jedoch nie Thema sind, und sie entdeckt „Medical Students for Choice“. Die Initiative aus den USA will genau das ändern. Der Gedanke ist einfach: Wenn dieser Eingriff so häufig gemacht wird, wenn er also wichtig für viele Frauen ist – sollten angehende Ärztinnen und Ärzte etwas darüber lernen.
Baier gründet „Medical Students for Choice Berlin“ mit Unterstützung der US-Gruppe und organisiert 2015 die ersten „Papaya-Workshops“ in Deutschland. Studierende lernen dort von Gynäkologinnen und Gynäkologen, wie der am häufigsten angewandte, der operative Schwangerschaftsabbruch funktioniert.
Bei der Absaugmethode, auch Vakuumaspiration genannt, die ebenfalls bei der Behandlung einer Fehlgeburt wichtig sein kann, wird unter Betäubung ein Röhrchen in die Gebärmutter eingeführt und dadurch die Schleimhaut mitsamt Embryo abgesaugt. Eine Papaya ist ähnlich einer Gebärmutter geformt und ebenso leicht zu verletzen. Die Studierenden können gut daran üben. Das Röhrchen an der schmalen Seite einführen, die Vakuumpumpe ansetzen, die Fruchtkerne absaugen.
Inzwischen ist die Initiative deutschlandweit vertreten und fordert, den Schwangerschaftsabbruch zu einem festen Bestandteil des Studiums und der gynäkologischen Facharztausbildung zu machen. Seit 2022 fordert das auch Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen). Eine Reform der Approbationsordnung könnte außerdem dazu beitragen, dass medizinische, rechtliche und ethische Aspekte des Themas verpflichtender Teil der ärztlichen Ausbildung werden.
Alicia Baier gründet 2019 „Doctors for Choice Germany“, ein Netzwerk von Ärztinnen und Ärzten sowie Menschen in Gesundheitsberufen, die davon überzeugt sind, „dass ein selbstbestimmter Umgang mit Sexualität, Fortpflanzung und Familienplanung essenziell für die Gesundheit aller Menschen sowie für die Gleichberechtigung in unserer Gesellschaft ist“. Baier ist im Vorstand, ihre Arbeit dort ehrenamtlich.
An manchen Tagen hilft ihr nur Sport, um den Kopf freizubekommen. Am liebsten klettert Baier, draußen an einem alten Flakturm im Volkspark Humboldthain. Unten steht ihr Freund und sichert sie. Weit oben an der Betonmauer muss sie wieder mutig sein. „Das Gefühl beim Klettern, diese Anspannung vor dem nächsten Schritt, ähnelt dem Aktivismus“, sagt Alicia Baier. Denkt ein wenig nach, fügt hinzu: „Ich habe Angst, aber ich spüre immer auch eine Lust, sie zu überwinden. Ich weiß, dass es sich hinterher gut anfühlen wird. Ich weiß, dass es wichtig ist, um etwas zu erreichen.“
Im Klinikum bleibt Baier heute bis zum Ende der Sprechstunde so zugewandt wie zu Beginn. Kaum ist die letzte Patientin weg, spurtet sie den leeren Flur entlang, zwei Stockwerke hoch durchs Treppenhaus, vorbei an den vier Kreißsälen, bis in die Stationsküche. „Ist noch was da?“ Das Müsli hat sie vor Stunden schnell am Computer zwischen zwei Patientinnen aufgegessen. Nun hat sie Hunger und Glück. Eine Kollegin reicht ihr die letzte Schüssel Reis mit vegetarischem Curry. Noch vor dem ersten Bissen erkundigt Baier sich bei den anderen Ärztinnen nach einer Patientin, die sie am Tag zuvor operiert hat. Sie ist wohlauf.
Mit am Tisch sitzen zwei Hebammen. Beide strahlen, die Wangen der jüngeren sind gerötet. Auch sie haben gerade viele Stunden durchgearbeitet. Erzählen von der anstrengenden, aber sehr schönen Geburt. „Das ist ja toll“, sagt Alicia Baier. Lächelt nun ebenfalls über das ganze Gesicht. „Die Mutter hat sich so auf ihr Kind gefreut.“ Alle nicken.